Neue Berufsfelder in der Ergotherapie
22.09.2025 Magazin
Studiengang erweitert für Studierende Praxis- und Forschungsnetzwerk.
Denkt man an Tätigkeitsfelder von Ergotherapeut*innen, denkt man häufig an Einsätze in ambulanten Praxen, Kliniken oder Wohnheimen. Doch welche neuen Berufsfelder wachsen darüber hinaus? Dieser Frage ging der Studienbereich Ergotherapie der Hochschule Bochum in einem einjährigen Projekt nach. Nun erweitert er sein Praxis- und Forschungsnetzwerk: Warum und wie die Erweiterung den Studierenden zugutekommt und was für neue Karrierewege sich für Ergotherapeut*innen ergeben – das erläutern Prof. Dr. Verena Baumgart, Projekt- und Studienbereichsleiterin sowie Kim Rosenberg, Projektkoordinatorin und Absolventin des Studiengangs Ergotherapie, im Interview.
Was sind klassische Berufsfelder von Ergotherapeut*innen?
Kim Rosenberg: Die klassische Ergotherapie unterstützt und begleitet Menschen, die von Krankheiten, Verletzungen oder auch Entwicklungsstörungen betroffen sind, welche ihre persönliche Handlungsfähigkeit im Alltag einschränken beziehungsweise diese bedrohen. Das können zum Beispiel körperliche, psychische oder kognitive Beeinträchtigungen nach einem Schlaganfall sein oder orthopädische Folgen von Sportunfällen, die dazu führen, dass die Betroffenen wichtigen Betätigungen ihres Alltags nicht mehr selbstständig nachgehen können. Ziel der Ergotherapie ist es, die Selbstständigkeit der Menschen in ihrem Alltag zu fördern, damit sie in diesen wieder zurückfinden. Ergotherapeut*innen entwickeln mit Menschen jeglichen Alters auf deren Lebenswelt zugeschnittene individuelle und effektive Therapien. Mich fasziniert an der Ergotherapie, dass sie die Lebensqualität der Menschen verbessert und ihre Teilhabe am Leben und in der Gesellschaft fördert. Klassische Einsatzorte von Ergotherapeut*innen sind unter anderem Ergotherapie-Praxen, Reha- und Fachkliniken, Krankenhäuser, Senioren- und Pflegeheime oder Werkstätten für Menschen mit Behinderungen.
Inwiefern entstehen und wachsen neue Berufsfelder in der Ergotherapie?
Prof. Dr. Verena Baumgart: Wir beobachten einen Wandel in der Gesundheitsversorgung, der über die individuelle Behandlung in einer der klassischen Einrichtungen hinausgeht. Ein wachsendes Arbeitsfeld für Ergotherapeut*innen ist insbesondere das Jobcoaching am Arbeitsplatz. Dabei begleiten Ergotherapeut*innen Menschen mit Beeinträchtigungen bei der Rückkehr an ihren Arbeitsplatz oder bei der Aufnahme eines neuen Beschäftigungsverhältnisses. Sie besuchen die Menschen vor Ort in ihrem Arbeitsumfeld, analysieren und bewerten dieses Arbeitsumfeld. Unter anderem erarbeiten sie ergonomische Lösungen für Herausforderungen, beraten bei der Beschaffung möglicher Hilfsmittel und unterstützen Menschen darin, Fähigkeiten zurückzugewinnen oder zu entwickeln, die für das Arbeitsfeld erforderlich sind. Neue Tätigkeitsfelder für Ergotherapeut*innen entstehen auch bei Integrationsfachdiensten, die Menschen mit Behinderungen auf für sie geeignete Arbeitsplätze vermitteln und dabei auch deren Arbeitgeber*innen beraten oder bei den ‚Einheitlichen Ansprechstellen für Arbeitgeber‘, die ebenfalls Arbeitgeber*innen darin unterstützen, Menschen mit Behinderungen zu beschäftigen. Darüber hinaus entwickelt sich als neuer Aufgabenbereich die Gemeinwesenorientierte Ergotherapie.
Was sind Aspekte der Gemeinwesenorientierten Ergotherapie?
Prof. Dr. Verena Baumgart: Im Gegensatz zur klassischen Einzeltherapie, die individuelle Bedürfnisse in den Fokus nimmt, orientiert sich die Gemeinwesenorientierte Ergotherapie an den Bedürfnissen von Gemeinschaften, an gesellschaftlichen Themen wie soziale Ungleichheit oder Migration und gesundheitlicher Chancengleichheit. In dem Tätigkeitsfeld informieren und beraten Ergotherapeut*innen Menschen zu Gesundheitsthemen, fördern gesunde Lebensweisen und Prävention. Ein Beispiel hierfür stellen lokale Community-Health-Angebote wie Gesundheitskioske dar. Das sind Beratungsstellen in sozial benachteiligten Regionen, die Menschen bei Gesundheitsfragen unterstützen. Ein weiteres Beispiel sind ‚Ergänzende unabhängige Teilhabeberatungsstellen‘, die Menschen mit Behinderungen bei Fragen rund um Teilhabe und Rehabilitation unterstützen, dabei kann es auch um ergotherapeutische Hilfsmittel gehen. In diesen neueren Berufsfeldern, die die klassischen Stellenprofile ergänzen, geht es weniger um die Anwendung praktischer ergotherapeutischer Fähigkeiten, vielmehr nehmen Ergotherapeut*innen dort eine stark beratende Funktion ein. In einem einjährigen Projekt haben wir im Studienbereich Ergotherapie recherchiert, wo neue Berufsfelder für Ergotherapeut*innen wachsen und zugleich an einer Erweiterung unseres Praxisnetzwerks gearbeitet.
Wie sieht die Erweiterung dieses Praxisnetzwerks genau aus?
Kim Rosenberg: Studierende der Ergotherapie an der Hochschule Bochum erwerben einen doppelten Abschluss: die Berufszulassung als Ergotherapeut*in, sowie den Bachelor of Science. Im Studienverlauf absolvieren sie 1.700 Praxisstunden in Gesundheitseinrichtungen mit denen der Studienbereich kooperiert. Die Praxisstunden fallen bislang in die klassischen Tätigkeitsbereiche und umfassen neben Wahlbereichen drei Pflichtbereiche - den motorisch-funktionellen sowie psychosozialen Bereich und die Arbeitstherapie. Typischerweise absolvieren die Studierenden die praktischen Studienphasen in Ergotherapie-Praxen, Kliniken, Wohnheimen oder Werkstätten für Menschen mit Behinderung. Künftig können die Studierenden bereits im Studium in neue, wachsende Berufsfelder wie das Jobcoaching hineinschnuppern. Durch neu erschlossene Kooperationen umfasst das Praxisnetzwerk des Studienbereichs dann zum Beispiel auch Integrationsfachdienste, Gesundheitskioske oder Kindergärten, in denen interprofessionelle Ansätze eine wichtige Rolle spielen. Mitarbeiter*innen, die in der ‚Ergänzenden unabhängigen Teilhabeberatung‘ tätig sind, werden zudem in die Lehre kommen und Studierenden aus erster Hand aus dem neuen Berufsfeld berichten.
Inwiefern profitieren Studierende also von der Erweiterung des Praxisnetzwerks?
Kim Rosenberg: Die praktischen Studienphasen bereiten die Studierenden dann auf die klassischen, zusätzlich aber auch auf neue Berufsfelder vor. Im Studium erwerben die Studierenden ergotherapeutisches Fachwissen, sie erwerben aber auch übergeordnetes Gesundheitswissen. Dazu gehören Kenntnisse über die interprofessionelle Versorgung, in der Ergotherapeut*innen mit anderen Professionen zusammenarbeiten und ihre Expertise einbringen. Dazu gehört aber auch umfassendes Wissen über Public oder Community Health und das Entwickeln von Beratungs- und Kommunikationskompetenzen, von denen sie gerade in den neueren Berufsfeldern zusätzlich profitieren. Es entstehen Stellenprofile, für die Ergotherapeut*innen mit einem akademischen Abschluss in hohem Maße qualifiziert sind. In den praktischen Einsätzen an der Hochschule sollen die Studierenden auch das Selbstbewusstsein entwickeln, an solche Stellen heranzutreten.
Prof. Dr. Verena Baumgart: Die aktuellen Entwicklungen, insbesondere in den Bereichen Arbeitstherapie und Arbeitsrehabilitation sowie Gemeinwesenorientierte Ergotherapie, stellen eine große Chance dar. Absolvent*innen der Ergotherapie haben - auch aufgrund des Fachkräftemangels - derzeit die freie Arbeitsplatzwahl. Ihre Expertise ist sehr gefragt. Viele entscheiden sich für das traditionelle Arbeitsfeld Ergotherapie, andere finden ihre Berufung in innovativen Settings. Mir ist der Austausch mit den Studierenden wichtig und es gab dort auch Impulse von Studierenden, welche neuen Arbeitsgebiete in der Ergotherapie sie besonders interessieren und wo sie sich die Möglichkeit eines praktischen Einsatzes wünschen. Gerade das Jobcoaching ist bei Studierenden beliebt. Wir möchten unseren Studierenden daher praktische Einsätze anbieten, die beides bedienen, um sie neben den traditionellen auch auf innovative Arbeitsfelder vorzubereiten. Ich möchte in meiner Lehre nicht nur von neuen Tätigkeitsfeldern sprechen. Mir ist es wichtig, dass die Studierenden diese selbst erleben können, um für sich zu entscheiden, ob das ein Bereich ist, in dem sie zukünftig arbeiten möchten, oder - und auch das ist eine wichtige Erkenntnis - ob es dieser Bereich genau nicht ist. Ich möchte den Studierenden mitgeben, offen zu sein und etwas auszuprobieren. Durch den Kontakt zu regionalen Praxispartner*innen können unsere Studierenden theoretisch erlerntes Wissen praktisch anwenden und neben potenziellen Tätigkeitsfeldern auch Arbeitgeber*innen kennenlernen. Dies erleichtert ihnen nach ihrem Studienabschluss den Berufseinstieg in Bereichen, für die sie mit dem Bachelor of Science qualifiziert sind.
Parallel erweitern Sie im Studienbereich Ergotherapie auch ihr Forschungsnetzwerk.
Prof. Dr. Verena Baumgart: Ja, wir sind ebenfalls dabei, neue Forschungskooperationen zu schließen. Wir möchten Studierenden und Kooperationspartner*innen auch anbieten, in Bachelor-, Master- oder Promotionsarbeiten Forschungsfragen aus den innovativen, wachsenden Berufsfeldern in der Ergotherapie zu bearbeiten. Mir ist es wichtig, reale Fallbeispiele und Herausforderungen des Gesundheitssystems aufgreifen zu lassen, weil das eine Win-Win-Situation für die Studierenden und die Kooperationspartner*innen ist. Die Studierenden können ihr Wissen an Herausforderungen aus der Praxis anwenden und dabei wichtige Kontakte knüpfen. Die Kooperationspartner*innen erhalten auf Fragen, die zwar im Tagesgeschäft aufkommen, für deren Beantwortung aber häufig einfach die Zeit fehlt, wissenschaftlich fundierte Erkenntnisse aus der aktuellen Forschung. Mein ehemaliger Chef sagte einmal: „Die beste Praxis nützt nichts, wenn sie keiner Evidenz unterliegt und die beste Forschung nützt nichts, wenn sie nicht an der Praxis angelehnt ist.“ Wir möchten unser Praxis- und Forschungsnetzwerk kontinuierlich weiter ausbauen und damit auch die Qualität der Lehre stetig steigern.
Das Interview führte Daniela Schaefer, Online-Redakteurin
Studiengang Ergotherapie
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