Was der Blick übers Lernverständnis verrät
25.11.2025 Magazin
Aufmerksamkeitsbeobachtender Videoplayer soll Effektivität von Lernvideos im Studium steigern.
Wie gut werden Inhalte aus Lernvideos von Studierenden verstanden? Und wie können Studierende mit Hilfe von Eye-Tracking beim Lernen unterstützt werden? Genau mit diesen Fragen beschäftigt sich Dr. Christian Scheffer in dem vom Bundesministerium für Bildung und Forschung geförderten Forschungsprojekt „IRIS:VIDEO“. Der Professor für Mathematik und Informatik im Anwendungsfeld Industrie 4.0 hält an der Hochschule Bochum die Vorlesungen Mathematik I und II für Informatiker*innen. Ziel des Forschungsprojekts: Die Entwicklung einer Webanwendung, bei der mit reaktivierenden Elementen ein tieferes Verständnis für Lerninhalte gefördert wird.
Sie bringen Ihre Vorlesungen mit selbst produzierten Lernvideos zu den Studierenden nach Hause: Mit welcher Idee?
Prof. Dr. Christian Scheffer: Während der Pandemie habe ich zu meinen Vorlesungen Videos produziert, das heißt, dass ich meine Vorlesungsinhalte in selbst erstellten Clips verpackt habe. Die Studierenden bekommen von mir die Aufgabe, sich die einzelnen Videos zu Hause in Vorbereitung auf die Präsenzvorlesung anzuschauen. Die Lernvideos sind in eine 2D-Spieleumgebung eingebunden, die wir in einem vorangegangenen Forschungsprojekt erstellt haben. In der Spielewelt ‚Mathematik für Informatiker*innen‘ erkunden Studierende als Avatare unter anderem das ‚Dorf der Analysis‘, in dem es zum Beispiel das ‚Haus der Integralrechnung‘ gibt. Wenn sich die einzelnen Avatare in der Spieleumgebung begegnen, also nah genug beieinander sind, geht ein Video-Chat auf. Die Studierenden können sich die Lernvideos dann auch zusammen anschauen und sich bei Verständnisfragen direkt austauschen. Die Lernvideos sind zum Beispiel in den ‚Höhlen der Vorlesung‘ zu finden. Das gemeinsame Erkunden der Welt fördert die Vernetzung unter den Studierenden. Sie eignen sich das Wissen aus den Vorlesungen digital selbst an. In der folgenden Präsenzvorlesung spreche ich mit den Studierenden über ihre Fragen zu dem jeweiligen Lernvideo, vertiefe Inhalte daraus, trete mit den Studierenden in eine Diskussion darüber oder bette das neue Wissen in einen Anwendungskontext ein.
Welche Erfahrungen machen Sie mit dieser Lern- und Lehrmethode?
Prof. Dr. Christian Scheffer: Der Vorteil ist, dass diese Methode viele Studierende mit hoher Heterogenität abholt. Für die einen Studierenden hat die eigene Zeiteinteilung, das eigene Tempo beim Lernen einen hohen Stellenwert. Andere benötigen zum Lernen viele Beispiele, wieder andere langweilen sich gerade bei mehr als einem Beispiel, wieder andere spulen zurück und hören sich Inhalte gerne auch ein zweites Mal an. All diese unterschiedlichen Lerntypen müssen wir in der Lehre beachten und die Methode spricht vieler dieser Lerntypen an. Die Studierenden werden auch selbstsicherer, weil sie lernen und den Mut aufbringen, im Plenum vor ihren Mitstudierenden Fragen zu stellen. Bestenfalls geben auch Mitstudierende die Antwort auf die Frage, sodass ein Austausch entsteht. Was ich aber darüber hinaus auch häufig beobachte ist, dass es bei den Studierenden zu einer falschen Selbstwahrnehmung darüber kommen kann, wie tiefgreifend die Lerninhalte verstanden wurden. Das führt dazu, dass ich Inhalte der Lernvideos oftmals in den Präsenzveranstaltungen auch erst einmal wiederhole, obwohl ich eigentlich mit den Studierenden bereits über die Anwendung der Inhalte sprechen wollte.
Dort setzt Ihr Forschungsprojekt an?
Prof. Dr. Christian Scheffer: Ja, die Schwierigkeit ist: Was nicht verstanden wird, ist individuell unterschiedlich. Wir müssten den einzelnen Studierenden beim Betrachten der Selbstlernvideos in die Köpfe schauen können, um zu wissen, welche Stellen kritisch sind, an welchen Stellen sie Verständnisschwierigkeiten haben. In der Kognitionswissenschaft ist die ‚Eye-Mind-Hypothese‘ formuliert, die besagt, dass Blickbewegungen Rückschlüsse auf kognitive Prozesse zulassen. Wie lange und wie häufig beispielsweise auf einen Lerninhalt geschaut wird, kann also Auskunft darüber geben, wie gut die Lerninhalte verarbeitet wurden. Wenn eine Person zum Beispiel nur kurz auf einen komplexen mathematischen Inhalt schaut, deutet das daraufhin, dass der Inhalt lediglich oberflächlich verstanden wurde. Wir haben im Forschungsprojekt neue Lernvideos erstellt, die Inhalte sehr fein formuliert und antizipiert, wo potenzielle kritische Stellen im Lernvideo sind. Parallel haben wir im Projekt einen webbasierten, aufmerksamkeitsbeobachtenden Videoplayer mit aufbereitetem Lernmaterial für die Vorlesungen Mathematik I und II für Informatiker*innen entwickelt. Mit der Integration von Webcam-Eye-Tracking soll der Player über die Laptop-Kamera die Daten des Blickverlaufs der Studierenden in regelmäßigen Intervallen während des Lernens erfassen. Mittels Künstlicher Intelligenz und Algorithmischer Geometrie soll der Player die Eye-Tracking-Daten analysieren und oberflächliches von tiefem Verständnis unterscheiden. Der Videoplayer ist bereits einsatzbereit und soll bei den Studierenden eine realistische Selbsteinschätzung des eigenen Lernverständnisses hervorrufen, ihnen also eine Verständnisrückkopplung geben und die Studierenden zugleich beim Lernen unterstützen.
Inwiefern? Wie können Hilfestellungen des Videoplayers aussehen?
Prof. Dr. Christian Scheffer: Der Videoplayer kann bei den Studierenden bei schwindender Aufmerksamkeit oder erkennbar oberflächlichem Verständnis mit reaktivierenden Elementen ein tieferes Verständnis fördern. Solche reaktivierenden Elemente können Coding-Aufgaben, also Programmieraufgaben sein, anhand derer erlernte Programmierkenntnisse angewendet und Programmiersprachen vertieft werden. Die von uns konzipierten Aufgaben sind analog zum Video-Modul mit einer Aufmerksamkeitsmessung verknüpft. Darüber hinaus haben wir einen Fragenpool erarbeitet und wenn die Lernenden das Video schauen, entscheidet der Player an den kritischen Stellen, welche Fragen am besten zum aktuellen Lernverständnis des Betrachtenden passen. Für jedes Video existiert dann ein Pre-Quiz und ein Post-Quiz mit von uns aufbereiteten Multiple-Choice-Verständnisfragen, zu dem der Player nahtlos überleitet. Auf diese Weise ermittelt der Player das Vorwissen der Studierenden und vergleicht dieses mit dem Wissensstand nach dem Schauen des Lernvideos. So kann der interaktive Videoplayer den Lernfortschritt messen, selbst entscheiden und die Fragen aus dem Pool auswählen, die ein tieferes Verständnis fördern. Bei einem schlechteren Lernfortschritt kann der Player auch zum Lernvideo oder den Coding-Aufgaben zurückgehen, damit die Lerninhalte wiederholt werden. Der Player kann den Studierenden aber auch Mut machen oder Lob aussprechen. Überlisten lässt sich der Player hingegen nicht, Funktionen wie eine Pause, Vorspulen oder Überspringen haben wir deaktiviert.
Das Forschungsprojekt befindet sich im Endspurt: Was sind die nächsten Schritte?
Prof. Dr. Christian Scheffer: Aktuell befinden wir uns in der finalen Entwicklungs- und Testphase. Anschließend folgt die Erhebungsphase, in der wir den Videoplayer in der Lehre einsetzen und über mehrere Tage erstmals mit Studierenden beider Vorlesungen anwenden. Danach folgt eine Analyse- und Dokumentationsphase, in der die Datenerhebung aus der Anwendung mit den Studierenden wissenschaftlich ausgewertet und aufbereitet wird. Digitallehre kann Präsenzlehre nicht ersetzen, sie kann vielen Studierenden aber als zusätzliches Lernelement eine Unterstützung im Studium sein, Lehre auflockern und ihr einen innovativen Charakter geben. Unser Ziel mit diesem Forschungsprojekt ist es, Selbstlernzeit effizienter zu gestalten, um die Präsenzzeit für spannendere und tiefgreifende Fragestellungen des Faches zu nutzen.
Das Interview führte Daniela Schaefer, Online-Redakteurin.
Video zu IRIS:VIDEO
Vorstellung des Forschungsprojektes auf Youtube

