Viele Persönlichkeiten. Zwei Standorte. Eine BO.

Warum eine Bibliothekarin selbst nicht gerne Bücher ausleiht

Heidi Martin
Heidi Martin (63) hat jahrelang die Hochschulbibliothek der Hochschule Bochum geleitet. Foto: Marie Illner

Von Marie Illner

Viele Jahre hat Heidi Martin an der Hochschule Bochum für angewandte Wissenschaften die Fachbibliotheken Technik, Wirtschaft und die Fachbibliothek am Campus Velbert / Heiligenhaus geleitet. Nun geht sie mit 63 Jahren in den Ruhestand. Die Bibliothekarin spricht im Interview über ihre eigene Büchersammlung, die Mentalität von Bibliothekarinnen und Bibliothekaren und Bibliotheksbesuchern, sowie geliebte und weniger geschätzte Aufgaben.

Frau Martin, wenn Sie im Urlaub sind, steht dann jedes Mal ein Besuch der örtlichen Bibliothek auf der Sightseeing-Liste?

Nein, nicht zwangsläufig. (lacht) Aber ich habe in Urlauben tatsächlich schon tolle Bibliotheken besucht, zum Beispiel die Bibliotheka Hertziana in Rom. Ich bin auch gerne in Frankreich, dort war ich in kleinen Vorstadtbibliotheken, aber auch in der Nationalbibliothek in Paris. Allein das Gebäude ist beeindruckend, der Besuch lohnt sich definitiv! Ich mag die Atmosphäre in Bibliotheken und würde gerne einmal die Bibliothek in Singapur sehen. Aber zugegeben: Ich selbst gehe gar nicht in Bibliotheken und leihe Bücher aus.

Das überrascht. Wieso?  

Das ist einfach: Weil ich die Bücher gerne selber haben will! Mein Privatbestand besteht aus rund 5000 Büchern und einige gelesene Bücher sind dabei sogar schon aussortiert. Von Klassikern über Krimis bis hin zu Büchern, die einfach schön eingebunden sind, ist alles dabei. Ich selbst lese am liebsten Krimis und Romane über das Leben. Obwohl ich Bibliothekarin bin – ein Lieblingsbuch habe ich nicht! Spontan kann ich aber „Die Geschichte der Bienen“ und „Der Gesang der Flusskrebse“ als Titel nennen, die mir sehr gefallen haben.

War Ihre Leseleidenschaft auch der Antrieb, Bibliothekarin zu werden?

Ja, gelesen habe ich schon immer gerne. Eine Bekannte hat mich dann auf die Idee gebracht, nach der Realschule eine Ausbildung zur Bibliotheksgehilfin an der Universitätsbibliothek der Ruhr-Universität zu machen - sie war damals noch relativ neu. Anschließend habe ich in Köln studiert und bin Diplom-Bibliothekarin geworden. Noch immer ist Köln die einzige Ausbildungsstätte in Nordrhein-Westfalen. Mein Ziel war es immer, einmal eine Institutsbibliothek zu leiten.

Das ist Ihnen gelungen. Sie haben in den vergangenen Jahren die Fachbibliotheken Technik und Wirtschaft der Hochschule Bochum geleitet, außerdem die Fachbibliothek am Standort in Heiligenhaus. War es Ehrgeiz, mit dem Sie es von der Gehilfin, (der heutigen Fachangestellten für Medien- und Informationsdienste) zur Leiterin geschafft haben?

Ich habe mich früh gefragt, wie weit ich als Bibliotheksgehilfin kommen kann und habe für mich entschieden, dass ich höher hinauswollte. Von den 80 Studienanfängern, die 1976 in Köln begonnen haben, hatten nur zwei eine Ausbildung gemacht, alle anderen hatten Abitur. Dadurch war ich etwas außergewöhnlich, hatte aber einen entscheidenden Vorteil: Ich hatte in der Praxis von der Pieke auf gelernt und konnte nun Erfahrung mit Theorie verbinden.

Und in der Praxis, welche Aufgaben waren in Ihrer Zeit als Bibliothekarin am beliebtesten, welche weniger geschätzt?

Zuletzt als Bibliotheksleiterin haben sich meine Aufgaben deutlich von meiner Einstiegszeit unterschieden. Ich habe zwar versucht immer in der Praxis zu bleiben, aber besonders die Aufgaben rund ums Personal und Budget haben zugenommen – ein Stück weit schade! Denn in den früheren Jahren haben mir immer Informationsvermittlung und Bestelltätigkeit am meisten Spaß gemacht. Wenn ich Studierenden zum gesuchten Buch verhelfen konnte, hat mich das immer sehr gefreut. Katalogisieren war hingegen nie so wirklich mein Ding.

In Zeiten des Internets haben sich Ihre Aufgaben sicherlich verändert, oder?

Ja, definitiv. Wir haben insgesamt noch einen Bestand von etwa 75.000 Büchern, vor 20 Jahren waren das aber noch 120.000 Bücher. Fachhochschulbibliotheken haben keinen magazinierenden Charakter, sondern es soll aktuelle Literatur, Hand- und Lehrbücher vorhanden sein. Deshalb haben wir über die Jahre Printmedien und Mehrfachexemplare reduziert. Wenn Bücher als E-Books verfügbar sind, bevorzugen wir sie. Mehr und mehr werden auch Zeitschriften verschwinden und durch e-journals ersetzt werden.

Das heißt, Sie begrüßen die Digitalisierung?

Es ist eine Herausforderung, der man sich nicht verschließen kann und das hätte ich auch nie gewollt. Wir sind den Weg immer mitgegangen. Ich glaube, dass der Bereich noch über Jahre hybrid bleiben wird – es also ein Nebeneinander von Printversion und elektronischer Version geben wird. Es stimmt also definitiv nicht, dass wir keine Bibliotheken mehr brauchen.

...der dadurch geschaffene Platz - was geschieht mit ihm?

Bibliotheken entwickeln sich mehr und mehr zu ganzheitlichen Lernorten, es sind nicht mehr reine Ausleihbibliotheken. Deshalb nutzen wir den neu geschaffenen Platz, um den Studierenden eine schöne Atmosphäre zu bieten. Es gibt Lernecken, man kann Schachspielen oder auf Sesseln mit Blick auf das Lottental relaxen. Es finden sich sogar Bilder aus meinem Namibia-Urlaub hier! Es gibt im Übrigen auch Mentalitätsunterschiede zwischen den Nutzerinnen und Nutzern unserer Bibliotheken. Ich habe beobachtet, dass den Architekten die Bücher besonders wichtig sind: Sie wollen Zeichnungen anschauen und Bücher nebeneinanderlegen. Die Elektrotechniker sind deutlich IT-affiner, viele sitzen hier mit Laptops und greifen auf Datenbanken zu. 

Und Bibliothekare, was haben die für eine Mentalität?

Das Bild vom typischen huschigem und graumäusigem Bibliothekar, der sich hinter einer Theke in Büchern vergräbt, ist jedenfalls Schnee von gestern. Zu Zeiten meiner Ausbildung und anschließendem Studium gab es noch den Spruch: „Welches Leiden führt Sie denn hier her?“ und es waren tatsächlich einige Exoten dabei. Aber heute: Bibliotheken haben sich verändert und somit auch ihr Personal. Weil Beratung, Information und Kommunikation wichtige Aufgaben im heutigen Beruf sind, sind Bibliothekarinnen und Bibliothekare offene und vielseitig interessierte Menschen.

Seit 10 Jahren hat die Hochschule einen Standort in Heiligenhaus. Am dortigen Campus haben Sie die Fachbibliothek aufgebaut. Wie geht so etwas?

Mit viel Geduld, Planung und Ausdauer! Ganz am Anfang gibt es unglaublich viele Fragen, die in einem Grundkonzept geklärt werden müssen. Einige Beispiele: Welche Grundliteratur wird gebraucht? Welche Öffnungszeiten sollen angeboten werden?  Wie viel Personal wird gebraucht? Wie soll die Bibliothek strukturiert sein? Bis hin zu Fragen zur Farbwahl, die man mit Architekten klärt. Geworden ist es übrigens ein Apfelgrün, am Bochumer Standort sind die Akzente Rot und Petrol! So eine Bibliothek im Wandel zu erleben, das fand ich sehr spannend.

Gibt es eine Anekdote aus Ihrem Bibliothekarsleben – etwa ein Liebesbrief oder die Steuererklärung im zurückgegeben Buch?

An so etwas kann ich mich nicht erinnern, aber ich habe in der Hochschule Bochum mehrere Umzüge mitgemacht. Als eine zusätzliche Etage geschaffen wurde, war die Fachbibliothek als Übergangslösung in einem anderen Gebäude untergebracht. Beim Umzug hat die Umzugsfirma am Aufzug einen ganzen Bücherwagen mit relativ teuren Büchern stehen lassen. Später tauchte er an einem völlig anderen Ort wieder auf, leider aber nicht ganz vollständig. Vielleicht auch interessant: Die teuersten Bücher, die wir wohl angeschafft haben, waren mit mehreren tausend Euro die Brockhaus Lexika und die Encyklopaedia Britannica. Da fällt mir noch etwas ein: Ein Student kam mit einem Holzkästchen unter dem Arm zu mir, um zu fragen, ob es die Möglichkeit gäbe, da er dem „Verein zum Erhalt von Fledermäusen“ angehörte, das Kästchen mit in die Fachbibliothek Technik nehmen zu können. Im Kästchen schlief ein winziges Fledermausbaby, das er stündlich mit Flüssigkeit (mit Pipette) versorgen musste, aber trotzdem musste er für seine Klausur   mit weiteren Kommilitonen lernen. Natürlich habe ich es erlaubt.

Zum Abschluss ein schöner Ausblick: Wozu nutzen Sie die durch die im Ruhestand gewonnene Zeit – wohl doch nicht nur zum Lesen, oder?

Nein, ich habe schon ganz viele Ideen: Wir reisen sehr gerne, besonders nach Frankreich! Ich freue mich schon auf die Fahrradwege und das Meer, ohne die Urlaubstage zählen zu müssen. Endlich kann ich auch mehr mit meinen Enkelkindern ohne Zeitdruck unternehmen. Außerdem würde ich gerne das Klavierspielen reaktivieren und mich in der Leseförderung in Grundschulen engagieren. Einfach im Garten sitzen und ein Buch lesen – das wird aber bestimmt auch passieren!